2003 - 2012

 „TRÄUME MIT OFFENEN AUGEN“

 

2003 war das letzte Jahr von Eberhard Hauff als Leiter des Filmfests. Er hatte das Festival gegen alle Widerstände gegründet, um es dann mit seinem Team immer weiter zu gestalten und zu prägen. Unter seiner Leitung konnte sich das Filmfest als alljährlich stattfindendes Kulturereignis in München und als wichtige Plattform für den deutschen wie internationalen Film etablieren. Zu guter Letzt schloss sich mit einem Stargast ein Kreis zu den Festivalanfängen, wie Hauff im Katalog-Vorwort feststellte:

„Als die Internationale Münchner Filmwochen GmbH im Januar 1979 im Alten Münchner Rathaus feierlich ins Leben gerufen wurde, nahm die Schauspielerin Geraldine Chaplin, Tochter Charlie Chaplins, als Patin an diesem Ereignis teil. Aber erst 1983, nach einem zwölfwöchigen Marathon, konnte das erste Münchner Filmfest veranstaltet werden. Nach einem Vierteljahrhundert kehrt Geraldine Chaplin als Ehrengast nach München zurück und wird vom Festival für ihr bisheriges Lebenswerk mit dem CineMerit Award ausgezeichnet. In einer Hommage zeigen wir einige ihrer schönsten Filme.“

Regelmäßig hatte das Filmfest unter der Leitung von Hauff einen eingehenden Blick nach Osteuropa und in die Sowjet Union geworfen. Dem russischen Schauspieler Oleg Yankovsky widmeten Hauff und sein Team 2003 ein Tribute, womit sich ein weiterer Kreis schloss: NOSTALGIA von Andrei Tarkowsky mit Oleg Yankovsky in der männlichen Hauptrolle wurde 1983 beim ersten Filmfest gezeigt.

 

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Oleg Yankovsky

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Geraldine Chaplin

 

 

 

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Viele weitere hochkarätige Gäste kamen zu Hauffs Abschied. Die britische Verhaltensforscherin Jane Goodall reiste anlässlich der Deutschlandpremiere von Dave Lickleys Dokumentarfilm JANE GOODALLS SCHIMPANSEN an. Eine kürzere Reisestrecke als Goodall hatten Senta Berger und Michael Verhoeven, die in Felix Moellers DIE VERHOEVENS mitsamt der ganzen Familie porträtiert wurden. In der Reihe „American Independents“ hatte Ulla Rapp ebenfalls mehrere Dokumentarfilme programmiert, darunter Kenneth Bowsers EASY RIDERS, RAGING BULLS nach dem gleichnamigen Sachbuch von Peter Biskind, das sich mit dem wilden Kino des New Hollywood der 1970er beschäftigte. In dieselbe Zeit tauchten Ted Demme und Richard LaGravenese mit ihrem Film A DECADE UNDER THE INFLUENCE ein.

Die Fernseh-Reihe hatte Hauff zuletzt selbst kuratiert, unter anderem war Senta Berger als selbstbewusste Taxifahrerin Gerdi in einer Sondervorführung von DIE SCHNELLE GERDI UND DIE HAUPTSTADT zu sehen. Nach Majid Majidi konnte das Kinderfilmfest mit Mohammad Ali Talebi einen weiteren iranischen Regisseur willkommen heißen. In einem Sonderprogramm wurden neue Filme aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Mazedonien und Serbien-Montenegro gezeigt. In der Open-Air-Schiene liefen Jazz-Filme wie Scorseses NEW YORK, NEW YORK.

In Kooperation mit dem Haus der Kunst unter dem frischgebackenen Leiter Chris Dercon wurde die (Film-)Künstlerin Ulrike Ottinger und VideoArt-Künstler Christian Jankowski geehrt. Zum zweiten Mal waren beim FILMFEST MÜNCHEN zahlreiche Werke deutscher Videokünstler:innen und experimenteller Filmemacher:innen zu sehen, eigens dafür gab es einen Nachwuchswettbewerb um den von der VG Bild-Kunst gestifteten und mit 25.000 Euro dotierten „Experimental Film Förderpreis“.

Das Motto zu Hauffs letzter Festivalrunde lautete, Agnès Varda zitierend, „Träume mit offenen Augen“. Damit war das Kinoerlebnis an sich gemeint, aber mit dem Filmfest hatte Hauff ein ganzes Festival geschaffen, mit dem man sich über eine ganze Woche lang offenen Auges wegträumen konnte.

 

 

 

 

 

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DER NEUE FESTIVALLEITER: ANDREAS STRÖHL

 

Bereits vor der letzten Festivalausgabe mit Hauff war klar, dass Andreas Ströhl sein Nachfolger werden würde. „Die vier Gesellschafter des Filmfests haben 2002 angefangen, einen Nachfolger für Eberhard Hauff zu suchen“, erinnert sich Ströhl heute. „Die Stelle wollten sie aber nicht öffentlich ausschreiben, um nicht von Bewerbungen überflutet zu werden. Stattdessen haben sie einzelne Personen damit beauftragt, jeweils ein zehnseitiges Konzept für eine Neuausrichtung des Filmfests zu erstellen. Wer das überzeugendste Konzept vorlegen konnte, würde zum Auswahlgespräch eingeladen. Der BR und die SPIO haben in ihren eigenen Reihen gesucht, der Oberbürgermeister und der Finanzminister haben jeweils Menschen ihres Vertrauens angefragt.“

Im Auftrag von Oberbürgermeister Christian Ude fragte der Produzent und Filmverleiher Theo Hinz bei Ströhl an, ob dieser nicht ein Konzept vorlegen wolle. „Theo und ich kannten uns flüchtig, ich war mit seinem Sohn in dieselbe Schulklasse gegangen. Ich hatte zuvor ehrenamtlich beim Festival in Karlovy Vary gearbeitet und ein kleines Festival in Prag gegründet, war vor allem aber Leiter des Filmbereichs in der Zentrale des Goethe-Instituts und kannte bereits viele Filmemacher*innen und Leute aus der Branche. Ich habe dann ein Konzept erstellt, ohne groß damit zu rechnen, dass ich damit erfolgreich sein könnte. Dann wurde ich aber nicht nur zum Vorstellungsgespräch eingeladen, sondern tatsächlich ausgewählt. Ich habe daraufhin mit dem Vorstand des Goethe-Instituts gesprochen. Die waren einverstanden, mich erstmal für fünf Jahre zu beurlauben. So wurde ich Leiter des Filmfests.“

Ströhl galt bis zum Ende seiner Filmfestzeit als „Mann der leisen Töne“ (SZ), als Cineast, der nach seinem Antritt als Festivalchef Gäste wie Abbas Kiarrostami, die Dardenne-Brüder oder, gleich zu Beginn, die Brüder Aki und Mika Kaurismäki nach München holte. Zu seinen ersten Amtshandlungen gehörte eine Reduktion des Programms, insbesondere der TV-Reihe, und die Etablierung der „Isarmeile“, zu der auch die Kinos im Forum am Deutschen Museum gehörten. „Alle Kinos liegen nun dort, wo München am schönsten ist: auf einer Isarmeile, bequem zu Fuß erreichbar", verkündete Ströhl im Vorwort zum Filmfest-Katalog 2004. Außerdem sollte es mehr Möglichkeiten geben, „mitzufeiern. Die neu eingerichtete Surf Lounge im Gasteig steht jede Nacht für alle offen. Auch das Abschlussfest am 3. Juli ist nun eine Party fürs ganze Publikum – bei schönem Wetter im Freien vor dem Gasteig.“

Als besonderes bayerisches Schmankerl für die Gäste lud Ströhl zu einer Floßfahrt auf der Isar ein, die dann alljährlich (bis auf die Pandemiejahre) stattfinden sollte. Hier geht es zu den Erinnerungen Ströhls an die Anfänge und die heiteren Erlebnisse auf dem Floß.

Nach vier Jahren, 2008, verkündete Ströhl eine Verjüngung des Filmfest-Teams, wenngleich einige etablierte Programmer:innen wie Ulrich Maass und Ulla Rapp zunächst noch blieben. Trotz einiger Fußball-Europa- und Weltmeisterschaften, die im Sommer parallel zum Filmfest stattfanden, konnte er immer wieder Besucherrekorde verkünden. Neben Aki und Mika Kaurismäki, denen eine Werkschau gewidmet war, hieß er in seinem ersten Jahr Alan Parker als CineMerit-Preisträger in München willkommen. In den nächsten sieben Jahren kamen zahlreiche Persönlichkeiten des nationalen wie internationalen Films zum Festival, wo sie mit Werkschauen und/oder dem CineMerit für ihre Verdienste um das Kino ausgezeichnet wurden.

Hier geht's zu allen CineMerit-Preisträger:innen.

 

 

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Kiyoshi Kurosawa

LÄNDERSCHWERPUNKTE

 

Unter Ströhls Leitung wurden erfolgreiche Reihen wie Ulla Rapps „American Indies“ und die von Florian Borchmeyer programmierten „Visiones Latinos“ fortgeführt. Robert Fischer kuratierte weiterhin eine Sektion mit neuen französischen Filmen, zudem gab es vereinzelte Schwerpunkte mit Filmen aus Italien (2005), Mitteleuropa (2006) und Québec (2006 und 2009). Auch das asiatische Kino wurde von Jahr zu Jahr in Reihen gebündelt, unter Titeln wie „Junges Asiatisches Kino“ (2004), „Neues Asiatisches Kino“ (2007) oder „Das Jahr des Drachen“ (2008). 2005 wurde dem japanischen Kino ein Schwerpunkt gewidmet, mitsamt zwei Retrospektiven mit Filmen von Keisuke Kinoshita und Kiyoshi Kurosawa. Ab 2009 gab es einen „Fokus Fernost“, der von Bernhard Karl und Christoph Gröner programmiert wurde; Gröner kuratierte zudem 2011 einen Schweden-Schwerpunkt.

 

 

 

NEUE PREISE

 

Bis 2003 wurde der von der Gesellschaft zur Wahrnehmung von Film- und Fernsehrechten (GWFF) gestiftete High Hopes Award auf dem Filmfest verliehen. Vier Jahre später stiftete die DZ Bank erstmals den CineVision Award für ein innovatives erstes oder zweites Werk aus dem Internationalen Programm. Ab 2012 gab es eine eigene CineVision-Reihe, in der erste und zweite Filme junger Regisseur:innen gezeigt wurden. 2012 wurde die DZ Bank von Senator Entertainment als Stifter abgelöst. Erste Jurymitglieder waren Joachim Król, Alexandra Kordes und Sönke Wortmann. 2015 folgte Wild Bunch als Preisstifter, 2016 die GWFF. Seit 2017 stiftet die MPLC Deutschland GmbH (Motion Picture Licensing Company) den CineVision Award, das Preisgeld beträgt 15 000 Euro.

Hier geht's zu allen CineVision Award Gewinner:innen.

2004 wurde der Publikumspreis eingeführt. Die Besucher:innen des Filmfests können dabei über ihren Favoriten aus dem Festivalprogramm abstimmen. Seit 2016 wird der Preis von Bayern 2 und Süddeutsche Zeitung gestiftet. Die Wahl des Publikums fiel in der Vergangenheit unter anderem auf den Dokumentarfilm KEEP SURFING (2009), das Drama NUR WIR DREI GEMEINSAM (2016) und FOR SAMA (2019), der für den Oscar als bester Dokumentarfilm nominiert war.

Hier geht's zu allen Gewinner:innen des Publikumspreises.

NEUER DEUTSCHER FILM

 

Sowohl im Kino- wie im Fernsehbereich zeigte das Filmfest auch in der Ära Ströhl sorgsam kuratierte Höhepunkte des kommenden Kino- und Fernsehjahrs, sowohl von etablierten Regisseur:innen wie vom Filmnachwuchs. In der von Ulrich Maass programmierten Kinoreihe fanden sich unter anderem: MARSEILLE von Angela Schanelec und DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI von Hans Weingartner (beide 2004), FALSCHER BEKENNER von Christoph Hochhäusler und SCHLÄFER von Benjamin Heisenberg (beide 2005), WER FRÜHER STIRBT, IST LÄNGER TOT von Marcus H. Rosenmüller und WINTERREISE von Hans Steinbichler (beide 2006), AM ENDE KOMMEN TOURISTEN von Robert Thalheim und BESTE ZEIT,  erneut von Rosenmüller (beide 2007), DAS FREMDE IN MIR von Emily Atef und WOLKE NEUN von Andreas Dresen (beide 2008), wobei Dresens WHISKEY MIT WODKA gleich im nächsten Jahr folgte. DER LETZTE SCHÖNE HERBSTTAG von Ralf Westhoff (2010) und HELL von Tim Fehlbaum (2011) waren Filme von Regisseuren, die auch später zum Filmfest eingeladen wurden.

Die Sektion mit deutschen TV-Filmen wurde drei Jahre lang, von 2004 bis 2006, von André Zoch programmiert. Auf ihn folgte Ulrike Frick, die zuvor bereits als Redakteurin des Programm-Magazins für das Filmfest tätig gewesen war. Zu ihrem Antritt als Programmerin 2007 stellte sie in ihrem Katalogbeitrag fest:

„Die Reihe der deutschen Fernsehfilme avancierte durch eine deutliche Reduzierung der Beiträge zu einer profilierten Sektion des Filmfests. Namhafte Regisseure und wagemutige Newcomer, großartige Darsteller, spannende Stoffe, exquisite Kameraleute und Cutter beweisen nun auch 2007 wieder, dass der Fernsehfilm hierzulande schon lange kein Derivat des Kinos mehr ist, sondern eine eigenständige, ernst zu nehmende Plattform für hochkarätige Filmschaffende.“

FILME FÜR KINDER UND JUGENDLICHE

 

Auch beim Kinderfilmfest kam es kurz nach Beginn der Ära Ströhl zu einem Leitungswechsel: Katrin Hoffmann löste 2005 das dreiköpfige Kuratoren-Team Hans Strobel, Christel Strobel und Gudrun Lukasz-Aden ab und veranstaltete gleich mal in ihrem ersten Jahr neben dem Kinderfilmfest ein „Jugendfilmfestival“, bei dem Filme wie SCHILDKRÖTEN KÖNNEN FLIEGEN des iranisch-kurdischen Regisseurs Bahman Ghobadi und eine Reihe von japanischen Animes wie CHIHIROS REISE INS ZAUBERLAND gezeigt wurden. In den beiden Folgejahren wurden Beiträge aus dem Gesamtprogramm ausgewählt und als Filme „Unter 18“ noch einmal gesondert einem jugendlichen Publikum gezeigt.

 

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Kinderfilmfest 2005

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Kinderfilmfest 2010

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Kinderfilmfest 2012

FILME ZU SPÄTER STUNDE

 

1996 wurde eine Spätschiene mit grenzsprengenden, bizarren, erotischen wie gewaltsamen Filmen unter dem Titel „Off Limits“ beim Filmfest eingeführt. Im nächsten Jahr gab es die Reihe schon nicht mehr. 2006 ließ man sie unter neuem Titel wieder aufleben: Ausgewählte Filme aus dem Programm, die einen starken Hang zum Abgründigen hatten, wurden – man kennt es von anderen Festivals – als „Midnight Movies“ gezeigt, darunter Filme wie Park Chan-wooks SYMPATHY FOR LADY VENGEANCE oder der spanische Psychothriller AUSENTES/THE ABSENT von Daniel Calparsoro. Im Gegensatz zu dem kurzen „Off Limits“-Ausflug wurden die „Midnight Movies“ auch in den nächsten Jahren fortgesetzt.

Ebenfalls zu später Stunde, ab 22 Uhr, fand im Hof des Gasteigs die Open-Air-Reihe statt. Einige Festivalbesucher kamen gezielt zu den kostenlosen Aufführungen, andere ließen sich beim nächtlichen Flanieren von den Bildern, die hoch über den Köpfen nahe der Stufen zum Hof auf der Leinwand flimmerten, zum Bleiben verlocken. Jedes Jahr wurden Filme zu einem bestimmten Thema oder mit einem wiederkehrenden Motiv ausgesucht, der Fantasie war offenbar keine Grenzen gesetzt. Während „Jazz in the movies“ (2003), „Surf’s up“ (eine Reihe mit Surffilmen, 2004) oder „Filmpiraten“ (2006) recht naheliegende Motti waren, konnte man sich unter dem Thema „Das Sein“ (2010) schon weniger vorstellen.

„Das Sein als Filmthema – eine ziemlich schwachsinnige Idee“, stellte auch Andreas Ströhl im Programm-Magazin fest. „Was denn sollen Filmen zeigen, wenn nicht das, was ist?“ Die Auswahl reichte dann von Klassikern wie SEIN ODER NICHTSEIN (1942) von Lubitsch über Spike Jonzes BEING JOHN MALKOVICH (1999) bis hin zu THE MAN WHO WASN’T THERE (2001) von den Coen-Brüdern.

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Beim Open Air im Gasteig Forum.

STRÖHLS LETZTES FESTIVALJAHR

 

Nach acht Jahren als Filmfest-Chef entschied sich Andreas Ströhl, an das Goethe-Institut zurück zu wechseln, wo er dann die Abteilung Kultur und Information leitete. 2011 verabschiedete er sich mit einem Festival, bei dem erneut einige internationale Ehrengäste angereist kamen. John Malkovich und Otar Iosseliani wurden jeweils mit dem CineMerit Award ausgezeichnet, dem schwedischen Spezialisten für skurrile Filme inklusive lange Plansequenzen, Roy Andersson, und einer der zentralen Regisseure des US-Independent-Kinos, Tom DeCillo, wurden jeweils mit einer Werkschau geehrt.

Zur Eröffnung kamen die Dardenne-Brüder mit ihrem neuen Film DER JUNGE MIT DEM FAHRRAD, zum Abschluss Aki Kaurismäki mit LE HAVRE. 237 Filme aus 50 Ländern wurden bei Ströhls letztem Festival gezeigt, mehr als 400 Aufführungen fanden in den Festivalkinos statt. Mit rund 70 000 verkauften Tickets war auch diese Festivalausgabe erfolgreich.

Beim Abschlussfest im Hof des Gasteigs spielten zwei schwedische Bands. „Nach dem letzten Interview habe ich exzessiv gefeiert“, erinnert sich Ströhl. „Es war 11 oder 12 Uhr nachts. Plötzlich höre ich, wie die Band, die gerade spielte, mich auf die Bühne ruft! Ich war schon etwas betrunken, bin aber dennoch zu ihnen hoch gestiegen, holte mir eine E-Gitarre und habe mit Teilen der Band und dem Pressesprecher Michael Amtmann am Schlagzeug ,You Can‘t Always Get What You Want' von den Rolling Stones gespielt. Zuvor waren Zettel mit dem Text verteilt worden, das ganze Publikum sang lauthals mit. Das war ein sehr schöner Abschluss meiner acht Jahre beim Filmfest.“

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"You can't always GET what you want" - Andreas Ströhl verabschiedet sich rockend vom Filmfest.

 

 

 

 

 

 

 

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DIE NEUE LEITERIN: DIANA ILJINE

 

Kurz nachdem Andreas Ströhl seinen vorzeitigen Filmfest-Abschied verkündet hatte, suchten die Gesellschafter des Filmfests – der Freistaat Bayern, die Stadt München, der Bayerische Rundfunk und die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) – nach einer Nachfolger:in.

In letzter Sekunde wurde auch Diana Iljine auf die Ausschreibung aufmerksam. Sie hatte einst in München Kommunikationswissenschaften studiert und bei verschiedenen Film- und Fernsehproduktionen als Aufnahmeleiterin und Produktionsassistentin gearbeitet. Zudem hatte sie im Sommer regelmäßig beim Filmfest im Bereich Presse und Gästeorganisation gearbeitet und war daher mit dem Festival von Grund auf vertraut. Ihre Magisterarbeit über die Münchner Produzentenlegende Bernd Eichinger brachte sie später in jahrelanger Arbeit selbst in Buchform: „Der Produzent“ erschien 1997 und entwickelte sich zum Standardwerk. Iljine arbeitete unter anderem beim ZDF in Mainz, dann bei Premiere in Hamburg. Zurück in München war sie als Programmeinkäuferin für Spielfilme und Serien bei RTL2 tätig, baute dann für Telepool den zentralen Programmeinkauf für den BR auf und leitete diesen erfolgreich.

 „Als bekannt wurde, dass Andreas Ströhl beim Filmfest gehen wird, war ich gerade dabei, ein berufsbegleitenden Wirtschaftsstudium zu vollenden“, erinnert sich Iljine heute. „Zudem war ich mit der dritten Auflage von ,Der Produzent‘ beschäftigt. Dann hatte ich mit Bettina Reitz, die damals Programmdirektorin des BR war, ein Gespräch. Die sagte zu mir, Mensch, gut, dass du kommst, der BR ist Gesellschafter des Filmfests und ich wollte dich für den Bewerbungsprozess empfehlen!‘ Auch andere, zum Beispiel Marc Gabizon, der mich zur Telepool geholt hatte, und weitere Produzentenfreund*innen haben mich auf den Auswahlprozess aufmerksam gemacht. Viele meinten zu mir: ,Das ist genau dein Job! Du liebst doch Film und kennst dich mit dem Filmfest sehr gut aus!‘ Kino war schon immer meine Leidenschaft gewesen und ich kannte praktisch jede und jeden in der Filmbranche. Die Leitung des Filmfests konnte ich mir also sehr gut vorstellen. Gleichzeitig steckte ich aber mitten im Studium, hatte ein kleines Kind und die Bewerbungsfrist endete in nicht mal einer Woche!“

Über Nächte hinweg arbeitete Diana Iljine an ihrer Bewerbung. Ihre Unterlagen konnte sie gerade noch abgeben, wurde prompt zum Auswahlgespräch eingeladen – und konnte die Gesellschafter von sich und ihren Ideen fürs Filmfest überzeugen. „Kurz danach rief mich Oberbürgermeister Christian Ude an und hinterließ mir eine Nachricht auf meiner Mailbox, die ich jahrelang nicht gelöscht habe. Er sagte einfach: ,Sie sind’s!‘“

Am 1. August 2011 wurde Diana Iljine Geschäftsführerin der Internationalen Münchner Filmwochen GmbH und leitete sowohl das Filmfest als auch das Internationale Festival der Filmhochschulen, das heutige Filmschoolfest. Ihre Leitungsposition trat sie zum 30. Geburtstag des Filmfests an, insbesondere mit dem Ziel, dem Festival mehr internationalen Glanz, auch durch mehr internationale Stargäste, zu geben. Zudem führte sie das Filmfest noch einmal mit Nachdruck ins digitale Zeitalter – Tickets gab es bald auch mobil übers Smartphone – und lockte verstärkt das junge Publikum an. Auch hinsichtlich der Filmanzahl und Programmreihen nahm Iljine gemeinsam mit ihrem Programmer-Team starke Änderungen vor, die sie unter anderem im Katalog zur 30. Filmfestausgabe im Jahr 2012 verkündete:

 „Um für das Jubiläum in Form zu kommen, haben wir das Programm entschlackt, verschlankt und gleichzeitig übersichtlicher gestaltet. Wir konzentrieren uns auf rund 180 statt 240 Filme und haben die Programmreihen neu gegliedert. Wir sind ein internationales Festival und tragen den Veränderungen des Weltkinos Rechnung. Woher ein Film kommt, ist nicht wichtig, sondern wie ein Film gemacht ist. Unabhängige Filmemacher und Handschriften gibt es in allen Ländern. Als Konsequenz haben wir die Reihe ,American Independents‘ in ,International Independents‘ umbenannt und sie entsprechend erweitert.“

Neben den „International Independents“ mit unabhängig produzierten Filmen aus aller Welt wurde die Reihe „Spotlight“ mit Filmen etablierter Regisseur*innen und bekannter Schauspieler:innen eingeführt. Die Reihe bzw. der Wettbewerb CineVision mit vornehmlich ersten und zweiten Werken junger Regisseur:innen wurde nun etabliert, in dessen Rahmen der CineVision Award verliehen wurde.

CineMerit-Preisträgerin beim Filmfest 2012 war Melanie Griffith. US-Regisseur Todd Haynes wurde mit einer Werkschau geehrt, es gab Hommagen mit Filmen von Julie Delpy und Nicolas Winding Refn sowie Special Screenings mit James Franco, der dafür auch nach München angereist kam. Es gab zwei Tributes, eines mit Filmen von Rainer Werner Fassbinder, das andere mit Filmen von Loriot. Nach jahrelanger erfolgreicher Kuration gab Ulrich Maass die Reihe „Neues Deutsches Kino“ an Christoph Gröner ab, der unter anderem mit Jan-Ole Gersters OH BOY einen späteren Kinohit im Programm hatte. Ein Special widmete sich Dokumentarfilmen und die Open-Air-Reihe zeigte unter dem Titel „The Sound of Munich“ Filme mit der Musik von Giorgio Moroder.

 

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