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SEHEN UND GESEHEN WERDEN

Sedat Aslan
Sedat Aslan

Im März veranstaltete das FILMFEST MÜNCHEN gemeinsam mit der Evangelischen Akademie in Tutzing eine Tagung zum Thema „Diversität“ – im Rückblick zeigt sich, was die Tagung in Bewegung gebracht hat. Während des Filmfests werden weitere Veranstaltungen das Thema vertiefen.

SEHEN UND GESEHEN WERDEN

Je höher man in der Hierarchieleiter des „German Cinematic Universe“ steigt, desto seltener kommen migrantische Namen vor – bis sie, ganz oben angelangt, gänzlich verschwinden.

Memo Jeftic, Produzent und Regisseur

Springtime in Tutzing, drei Tage im März 2022. Die Evangelische Akademie in Person der Studienleiterinnen Dorothea Grass und Alix Michell öffnet dem FILMFEST MÜNCHEN die Türen, um in der vom FilmFernsehFonds Bayern geförderten Tagung „Sehen und gesehen werden: Teilhabe im Film“ über eines der Themen der Stunde zu sprechen. Christoph Gröner und Julia Weigl zeichnen seitens des FILMFEST MÜNCHEN für die Veranstaltung verantwortlich und führen durch die zahlreichen Paneldiskussionen.

Das selbstverständliche diverse Erzählen, das selbstverständliche Setzen von diversen Figuren, Charakteren und Vorbildern – da haben wir noch sehr, sehr viel zu tun.

Fatima Abdollahyan, Commissioning Editor Bayerischer Rundfunk

Das deutsche Kino bildet nicht die Diversität ab, die wir in der Gesellschaft vorfinden – das ist die Erkenntnis, die Prof. Dr. Elizabeth Prommer von der Universität Rostock gleich in der eröffnenden Keynote präsentiert. In einem empirischen Verfahren haben sie und ihr Team unter anderem alle deutschen Kinofilme der Jahre 2017 bis 2020 ausgewertet und stellten fest, dass Personen mit Migrationshintergrund nur halb so oft sichtbar werden, wie sie in der Gesellschaft vorkommen. Ähnlich unterrepräsentiert sind nicht-heterosexuelle Figuren oder solche mit Behinderung. Es gibt aber auch positive Entwicklungen: Im Vergleich zur Vorgängerstudie hat sich der Anteil an weiblichen Protagonist:innen gegenüber dem der männlichen erhöht und geht auf eine Parität zu. Dies ist sicher spätestens der seit der „MeToo“-Bewegung angestiegenen Sensibilität für Fragen der Gleichberechtigung in der Filmbranche zuzuschreiben, durch die auch vermehrt Frauen in Entscheiderinnenpositionen kommen. Allerdings: Weibliche Protagonisten sind dennoch durch die männliche Perspektive geprägt, sind meistens unter 35 Jahren, schlank, hetero und vor allem im Beziehungskontext unterwegs.

Wenn Anfragen kamen, dann meistens für Rollen als Refugees, Dienstmädchen, Sklaven oder Prostituierte. Die, die im Hintergrund rumlaufen, mit dem Tablett Leute bedienen oder mal einen Satz sagen dürfen. Und ich habe gedacht: „Sag mal, was ist denn hier los?“

Thelma Buabeng, Schauspielerin

Filmbilder wirken prägend, im Positiven wie im Negativen. Wenn Frauen, Schwarze ... nur in bestimmten Kontexten auftauchen, setzen sich diese Rollenbilder fest. Dabei müsste es selbstverständlich sein, in einer freien und offenen Gesellschaft alle Gruppen angemessen zu repräsentieren. Was hat man denn zu verlieren? Immerhin ist doch jedes Individuum auch Konsument, mit der Macht, über Kinotickets oder Fernbedienung dem eigenen Gutdünken nach zu verfügen. Dass die deutsche Filmbranche dem nicht nachkommt und das Publikum praktisch dazu zwingt, sich stattdessen beispielsweise anglo-amerikanischen Produktionen zuzuwenden, wird in mehreren Panels auf der Tagung nachgegangen. Als Gründe für das Fehlen dieser Selbstverständlichkeit werden genannt: fehlende Sensibilität für sogenannte „Randgruppen“, mangelnde Repräsentanz von Menschen mit Migrationsgeschichte in Entscheider:innenpositionen (Produktionsfirmen, Redaktionen, Förderinstitutionen, aber auch generell in der Politik), Fehlannahmen über einen simplifizierenden Geschmack der (weiß/binär/heterosexuell geprägten) Mehrheitsgesellschaft. Im Übrigen befindet Prof. Elizabeth Prommer, dass es keinerlei Beleg dafür gäbe, dass Geschichten über BIPOC oder Menschen mit Migrationshintergrund das sprichwörtliche „Kassengift“ seien. Die mangelnde mediale Repräsentanz ist wie eine Maschine, die sich selbst nährt, denn wenn etwas marginalisiert wird, ruft es auf der großen Bühne zwangsläufig Irritationen hervor. Diesem Exotismus gilt es zu entkommen.

Wir haben ein strukturelles Problem mit Rassismus in unserer Industrie und müssen gemeinsam daran arbeiten, das zu ändern.

Matthijs Wouter Knol, Geschäftsführer und Direktor Europäische Filmakademie

Lösungsansätze sind im Raum: Gesetze, ständig zu überprüfende Richtlinien, Selbstverpflichtungen und Quoten, Umwidmungen der Gelder und Umbesetzung der Gremien. Dorothee Erpenstein, Geschäftsführerin des FFF Bayern, stellt Letzteres zumindest in Aussicht. In ihrem eigenen Vergabeausschuss, bei einer immerhin weiblichen Majorität, werden alle 14 Mitglieder als Menschen ohne Migrationshintergrund gelesen. Doch auch sie sagt: „Warum sollten wir das Potential von Diversität liegenlassen?“ Auch Helge Albers, Geschäftsführer der MOIN Filmförderung, der ersten Förderinstitution Deutschlands, die Leitlinien für Diversität eingeführt hat, sagt: „Diversität ist ein Zukunftsmodell. Wir müssen den Erwartungen, die die kommende Generation ans Filmemachen hat, Rechnung tragen“.

Die Engländer haben sich sehr viel früher mit der Zusammensetzung ihrer Gesellschaft, gerade im Medienbereich, beschäftigt. Da hängen wir im Moment fünf bis zehn Jahre hintendran.

Nico Hofmann, Regisseur, Filmproduzent, Drehbuchautor und Geschäftsführer der UFA

Zu Gast ist auch eine Delegation des British Film Institute unter der Leitung der Direktorin Mia Bays, wo all diese Überlegungen schon umgesetzt wurden und bereits erste Früchte tragen – als Reaktion darauf, dass kreatives Potential über viele Jahre mangels Chancen in Richtung USA ausgewandert ist. Melanie Hoyes, Beauftragte des BFI für Inklusion, bringt es auf den Punkt: „We believe talent is everywhere and opportunity is not.“ Fehlende Sichtbarkeit hat nicht nur gravierende gesellschaftliche und kommerzielle Auswirkungen, sondern auch ästhetische. Die Geschichten veränderten sich, und auch deren Erzählweisen, wenn alle gleichberechtigt zu Wort kämen. Auch das ist Diversität: das Paradigma der althergebrachten und immergleichen Geschichten und Konflikte aufbrechen, neue und mutige Perspektiven zulassen, das Andersartige und die Vielfalt fördern. Dorothee Erpenstein kündigt in diesen Fragen eine Zusammenarbeit mit dem BFI an, die auf dem diesjährigen FILMFEST MÜNCHEN vertieft werden soll. Es könnte ein Aufbruch in eine neue Zeitrechnung des deutschen Kinos sein – ein Aufbruch, der überfällig ist.

Die 2. und 3. Generation von Menschen mit Migrationsgeschichte setzen sich ganz selbstverständlich mit an den Tisch und sagen: „Entschuldigung, ich habe das Recht, ein normaler Teil dieser Gesellschaft zu sein.“

Hatice Akyün, Journalistin & Autorin

Seit der Tagung hat die von der Bundesregierung in Auftrag gegebene und erstmals von der frisch geschaffenen Stelle des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors veröffentlichte Studie „Rassistische Realitäten“ einige Thesen der Panelteilnehmer:innen bestätigt: Rassismus ist eine verbreitete Erfahrung in Deutschland, und rassistische Vorstellungen sind in der Gesellschaft zum Teil tief verankert. Dass Rassismus Realität ist, wird von 90% der Teilnehmer:innen dieser repräsentativen Umfrage bestätigt; insbesondere bei den Lebensbereichen Schule, Arbeit und Wohnen gäbe es rassistische Ausschlussmechanismen. Die deutsche Filmbranche ist also keine Ausnahmeerscheinung, kann und sollte jedoch im eigenen Interesse bei der Bekämpfung solcher Tendenzen vorausgehen und die Teilhabe erleichtern.

Wir sollten uns nicht der Fantasie hingeben, dass das Thema Diversität irgendwann mal bearbeitet ist, und dann läuft die Sache. Es ist ein „Moving Target“: Immer, wenn man denkt, man hat sein Ziel erreicht, wird man merken, dass sich neue Ziele auftun.

Helge Albers, Geschäftsführer MOIN Filmförderung

Wir stecken mitten in einem Prozess der Transformation, der nicht von heute auf morgen beendet sein wird, und in dem gerade etablierte Kräfte, wie Helge Albers bestätigt, auch ihren Widerstand leisten. Doch wenn sich das Rad einmal zu drehen begonnen hat, ist es schwerer, es zu stoppen, als einfach aufzuspringen. Zwischenzeitlich hat sich etwa die hessische Filmförderung HessenFilm auch im Hinblick auf diverse Geschichten komplett neu aufgestellt. Das FILMFEST MÜNCHEN widmet sich dieses Themas nicht nur als erstes deutsches Filmfestival, es verpflichtet sich darüber hinaus auch, es dauerhaft anzugehen. Im Rahmen der diesjährigen Edition wird es diesen Sommer mehrere Panels dazu geben, etwa von der Queer Media Society, Der Grünen Fraktion im Bayerischen Landtag, dem Bundesverband Casting, der HessenFilm und auch unter Einbeziehung der Politik in Person von Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien – etwa im Hinblick darauf, wie wir einen diversen filmischen Nachwuchs fördern, ihm den Einstieg in die Branche erleichtern können. Es ist zudem beschlossene Sache, dass die Tutzinger Tagung 2023 fortgesetzt wird. Wir bleiben dran – gemeinsam für Vielfalt!

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Bianca Jasmina Rauch von der Filmlöwin-Redaktion hat die Tagung Teilhabe im Film Vol. 2 besucht und schildert ihre Eindrücke. Vielen Dank für diesen Gastbeitrag darüber, was in den drei Tagen im November besprochen wurde.