EINE REIHE VOLLER TRÜFFEL

Unter der Leitung von Eberhard Hauff wurden ab 1994 auch Fernsehfilme im Programm des Filmfests gezeigt. Die Produktionsbedingungen im Fernsehbereich und damit auch die Auswahl haben sich seitdem stark verändert – wie die heutige Programmerin der Reihe, Dr. Ulrike Frick, zu erzählen weiß.

„Wer die internationale Filmproduktion bewerten will, insbesondere in künstlerischer und ästhetischer Hinsicht, kann sich heute nicht mehr darauf beschränken, nur vom Kinofilm auszugehen. Angesichts der Tatsache, dass das Fernsehen für Millionen Menschen, die noch nie in einem Kino waren oder für die es kein Kino mehr gibt, zum wichtigsten Medium der Filmrezeption geworden ist und zunehmend eigene Filme kreiert, lässt sich eine Trennung der Medien nicht mehr aufrechterhalten. Das FILMFEST MÜNCHEN, das als eines der ersten Festivals ,Videopremieren‘ veranstaltet hat, um herausragenden Filmen eine Kinoperformance zu sichern, öffnet sich künftig dem Fernsehen in breiter Form.“
Eberhard Hauff im Vorwort zum Katalog für das Filmfest 1994

Mit der Einführung der Reihe „Top Television“ zeigte das Filmfest als eines der ersten Kinofestivals Fernsehfilme als Weltpremiere oder in deutscher Erstaufführung auf der großen Leinwand. Dabei wurden nicht nur einheimischen Produktion gezeigt: Im Einführungsjahr 1994 liefen Beiträge aus Deutschland, Kanada, Japan, Kuba, Großbritannien, Italien und Frankreich. Zwei Jahre später, 1996, wurde erstmals der von der Verwertungsgesellschaft der Film- und Fernsehproduzenten gestiftete VFF TV Movie Award (heute: Bernd Burgemeister Fernsehpreis) jeweils an den besten deutschen und besten internationalen TV-Film verliehen. Insgesamt 34 nationale wie internationale Beiträge liefen in diesem ersten Jahr im Wettbewerb, ein Jahr darauf waren es 42 Beiträge aus elf Ländern.

In der Folge wurde die Filmanzahl reduziert, von 28 Filmen aus acht Ländern (Filmfest 1998) zu 19 Filmen aus sechs Ländern (Filmfest 1999) bis die TV-Reihe 2000 in eine Reihe mit 13 Fernsehfilmen „Made in Germany“ und 12 „internationalen TV-Movies“ aufgesplittet wurde. Ab 2001 konzentrierte man sich ganz auf die einheimische Produktion, kuratiert wurde die Reihe von Gabriele Gillner.

Von 17 deutschen Fernseh-Beiträgen beim Filmfest 2001 wuchs die Auswahl im Folgejahr wieder auf 41 Beiträge. Darunter waren Fernsehkrimiformate mit den Kommissaren Bloch (Dieter Pfaff), Brunetti (Joachim Król) und Kriminalrätin Dr. Eva Maria Prohacek (Senta Berger) in der Krimi-Serie UNTER VERDACHT. Oliver Hirschbiegels MEIN LETZTER FILM mit Hannelore Elsner bekam nach seiner Uraufführung beim Filmfest 2001 einen offiziellen Kinostart im November des gleichen Jahres.

Senta Berger Unter Verdacht

Senta Berger als Eva Maria Prohacek

Das erste Jahr von Ulrike Frick

 

Von 2004 bis 2006 wurde die Sektion mit deutschen Fernsehfilmen von André Zoch programmiert, der neben seiner Tätigkeit beim Filmfest auch als Producer bei der Maran Film, dann als Produzent bei der Bavaria Film tätig war – was sich mit der Kuration des Fernsehprogramms auf Dauer nicht vereinbaren ließ. Auf ihn folgte 2007 Dr. Ulrike Frick, die zuvor bereits als Redakteurin für das Programm-Magazin des Filmfests verantwortlich war und als Kultur-Journalistin unter anderem auch Fernsehkritiken geschrieben hatte. Sie verschlankte die Reihe „Neues Deutsches Fernsehen” deutlich, „was mich nicht unbedingt beliebt bei den Münchner Produzent:innen und TV-Stationen gemacht hat“, erinnert sich Ulrike Frick heute schmunzelnd. „Bereits in meinem ersten Jahr habe ich viele Produzent:innen und Redakteur:innen getroffen, die zum Teil indigniert waren, weil ich ihre Filme nicht automatisch genommen hatte. Es hat sich dabei ausgezahlt, dass ich grundsätzlich alle Filme immer bis zum Ende anschaue, um erklären zu können, was für mich nicht gestimmt hat. Dadurch wurde das anfangs ein manchmal erhitzter, aber auch produktiver Austausch. Mit der Zeit wurde die Atmosphäre angenehmer, weil die einreichenden Firmen spürten, dass es auch Vorteile hat, wenn eine Reihe stärker kuratiert wird. Das zeichnet einen Film aus, wenn er bei uns läuft!“

 

Teufelsbraten2007

Teufelsbraten (2007)

Novembermann2007

Der Novembermann (2007)

Windland2007

Windland (2007)

Neue Sichtungsbedingungen

 

Von wem Ulrike Frick die Fernsehfilme angeboten bekommt, hat sich mit den Jahren verändert: „Vieles lief am Anfang über die Sender und einzelne Filmemacher:innen ab, heute kommen die meisten Einreichungen von den Produktionsfirmen.“ Auch der technische Fortschritt macht sich hinsichtlich der Sichtung der Filme bemerkbar. „Ich habe in den ersten ein, zwei Jahren noch VHS-Kassetten in großen Stoffbeuteln nach Hause geschleppt. Das waren noch weit über hundert Einreichungen, die ich in dieser Form gesichtet habe! Dann wurde auf DVDs, später auf BluRays umgestellt. Es gab also weiterhin physische Datenträger, die mir direkt oder dem Filmfest zugeschickt wurden. Nach der Sichtung habe ich die DVDs an die Programmkoordination des Filmfests zurückgegeben, weil sie dann auch von der Festivalleitung gesichtet wurden. Mittlerweile läuft aber alles über Links ab, was insgesamt natürlich wesentlich einfacher und schneller ist.“

 

 

Mit kriminologischem Blick

 

Einen großen Anteil der deutschen Fernsehproduktion nehmen weiterhin Krimiformate ein, wobei Ulrike Frick das in „Wellenbewegungen” erlebt: „Manchmal bekomme ich fast ausnahmslos Krimis angeboten. Wenn viele gute dabei sind, nehme ich sie natürlich auch. Dann gibt es wiederum Jahre, in denen vor allem Filme eingereicht werden, die sich mit aktuellen Themen auseinandersetzen – mit gewissen zeitlichen Verzögerungen, weil es in der Regel zwei, drei Jahre dauert, bis ein Film von der ersten Idee an tatsächlich fertiggestellt ist. Was die Darstellung von Sex und Gewalt angeht, ist die nicht nur in Krimis wesentlich expliziter geworden: Die Kamera filmt heute alles genüsslich ab – von der grau werdenden Nasenspitze einer Leiche bis hin zum geöffneten Darmtrakt. Auch beim Sex geht es mittlerweile manchmal heftiger zur Sache... Das stört mich auch gar nicht, solange diese Szenen für die Geschichte irgendeine Funktion haben.“

 

In Der Falle

In der Falle (2014)

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Dampfnudelblues (2013)

Erfolge in Serie

 

Gerade in der letzten Festivalausgabe hat Ulrike Frick verstärkt serielle Produktionen in ihr Programm genommen. Acht neue Spielfilme und sieben neue Serien hatte sie für die Reihe kuratiert. Erstmals konnte der Bernd Burgemeister Fernsehpreis in zwei Kategorien, für den besten Spielfilm und die beste Serie, verliehen werden, da die Verwertungsgesellschaft der Film- und Fernsehproduzenten (VFF) das Preisgeld von 25 000 Euro verdoppelt hatte, „was für alle Beteiligten großartig war! Wir haben ja als eines der ersten deutschen Filmfestivals TV-Serien gezeigt. Das ,Goldene Zeitalter der Serien’ brach vor zehn, fünfzehn Jahren an, seither hat sich die Serienproduktion immer weiter ausdifferenziert. Die Serien sind heute diverser besetzt, zielgruppenorientierter und spielen in der Fernsehlandschaft längst eine entscheidende Rolle. Dem wollten wir natürlich Rechnung tragen.“

Auf Trüffelsuche

 

Insgesamt hat sich die Ästhetik von Fernsehfilmen und Serien stark verändert. „Qualitativ hat es einen großen Sprung nach vorne gegeben”, findet Ulrike Frick. „Die Zäsur würde ich dabei um das Jahr 2010 ansetzen: Durch internationale Serien gab es verstärkt Konkurrenz für die einheimische Produktion, das steigerte sich später durch den Erfolg der Streamingdienste. Die Budgets von deutschen Fernsehproduktionen sind merklich angestiegen, um mithalten zu können. Vorher wurden noch Filme eingereicht, die auf der Leinwand oft nicht funktioniert hätten. Heute könnte man hinsichtlich der Optik praktisch jeden Film und jede Serie in die Filmfest-Auswahl nehmen – das ist alles auf höchstem Niveau! Man merkt, dass der technische Standard an den Filmhochschulen sich immer weiter verbessert hat und die Studierenden den Umgang mit den verschiedensten technischen Mitteln beherrschen, wenn sie dann fürs Fernsehen und Kino drehen.”

Nicht immer ist dieser hohe ästhetische Qualitätsstandard aber von Vorteil: „Das sieht inzwischen alles sehr gut aus, was momentan so produziert und bei uns eingereicht wird. Aber manches wird dadurch in dieser universell austauschbaren Hochglanzästhetik auch schon wieder total uninteressant. Mittlerweile achte ich mehr darauf, ob ein Film eine spezielle Sichtweise auf ein Thema hat; ob etwas Unverwechselbares zu finden ist, ein besonderer Charme, vielleicht auch etwas Kantiges, Raues, Ungehobeltes. Meine Arbeit ist insofern feiner, kleinteiliger geworden, was ich toll finde: Ich muss mir nur noch selten Gedanken machen, ob eine Fernsehproduktion auf der Leinwand generell funktioniert, sondern kann mich auf die Themen, die Leistung der Schauspieler:innen, die formalen Details oder die besondere Handschrift konzentrieren. Es gibt auch nicht mehr so viele Einreichungen, wodurch ich den einzelnen Filmen besser gerecht werden kann. In meinen Anfangszeiten habe ich sicher manchmal einen guten Film in der überbordenden Masse an sehr beliebigen Einreichungen nicht entsprechend wahrgenommen. Heute werden fast 40 Prozent weniger Filme eingereicht. Das macht meine Aufgabe allerdings nicht einfacher, denn mittlerweile sind sie alle so gut, dass man prinzipiell jeden zeigen könnte. Inzwischen bin ich aber, glaube ich, ein ganz gutes Trüffelschweinchen geworden.“

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