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Was war und was wird

Michael Stadler
Michael Stadler

Zehn Filme, zehn Einblicke in individuelle und gemeinschaftliche Identitäten: Der Regienachwuchs zeigt sich realitätsnah, experimentierfreudig und sozialkritisch im diesjährigen CineVision-Wettbewerb.

Was war und was wird

Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss, könnte man meinen – so auch zu Beginn des ersten abendfüllenden Spielfilms des Japaners Joe Odagiri. In wunderschön komponierten Landschaftsaufnahmen (Kamera: Christopher Doyle) blickt Odagiri auf das Leben eines alten Bootsmanns, der Tag ein, Tag aus Menschen von einem Ufer zum anderen fährt. Gelegentliche Beleidigungen seiner Kunden nimmt der Alte stoisch hin – und gerät doch leicht in Unruhe angesichts des Baulärms, der über das Wasser zu ihm dringt. Eine Brücke wird gebaut, seine Dienste könnten bald obsolet werden. Das Leben ist dann doch kein langer, ruhiger Fluss. THEY SAY NOTHING STAYS THE SAME, heißt Odagiris Film. Alles verändert sich, irgendwann. Nichts hält ewig.

Es ist schon bemerkenswert, dass der 1976 geborene Odagiri, der auch das Drehbuch zu seinem Langfilmdebüt schrieb, sich ausgerechnet in die Haut eines alten Mannes einfühlt, dem der Existenzsinn zu später Lebensstunde wegzuschwimmen droht. Der Einbruch der städtischen Moderne in idyllische Landstriche ist aber wohl ein Thema für jede Altersstufe. Im Wettbewerb CineVision finden sich erste oder zweite Spielfilme von mehr oder minder jungen Regisseur:innen, die gerade in diesem Jahr auf eine sich ständig wandelnde Welt schauen, mit empathischem Blick auf ihre Figuren und die speziellen Gemeinschaften, in denen sie leben, inklusive sozialkritischem Impetus.

 

Solidarische Gemeinschaften

und der Einbruch des Neuen

Manche der Filmemacher:innen schöpfen dabei Inspiration aus ihrem eigenen Leben. Merawi Gerima, Sohn der Black-Cinema-Ikone Haile Gerima und bereits selbst als neue, aufregende Stimme des afroamerikanischen Kinos gefeiert, erzählt in seinem semi-autobiographischen ersten Spielfilm RESIDUE von einem Regisseur namens Jay, der nach jahrelanger Absenz in seine Heimat Washington, D.C., zurückkehrt. Dort muss er feststellen, dass seine alte Nachbarschaft überhaupt nicht mehr so ist, wie er sie in Erinnerung bewahrt hat. Weiße Mitbürger:innen begrüßen ihn in „ihrem“ Viertel, das inzwischen stark gentrifiziert wurde. Jay fühlt sich berufen, der unterdrückten Schwarzen Community eine Plattform zu geben, und möchte deshalb einen Film drehen. Bald muss er jedoch feststellen, dass ein solches Projekt von vielen als Anmaßung empfunden wird. Hat vielleicht nur er sich verändert?

They Say Nothing Stays Online 04

THEY SAY NOTHING STAYS THE SAME

Residue Online 02

RESIDUE

Topside Online 01

TOPSIDE

Von einer anderen, ganz speziellen Gemeinschaft erzählt das Regie-Duo Logan George und Celine Held in ihrem Spielfilmdebüt TOPSIDE. In den verlassenen Subway-Tunneln New Yorks haben sich Obdachlose eine Art Heimat geschaffen, die sie sich liebevoll, voller Lichter und schönem Schnickschnack, eingerichtet haben. Eine junge Mutter (gespielt von Celine Held selbst) und ihre kleine Tochter gehören zu dieser solidarischen Gesellschaft der Außenseiter, müssen aber nach einer Polizeirazzia an die Oberfläche fliehen. Nach einem Einstieg in unterirdisch-dunkler Atmosphäre kommen der Film und die beiden Protagonistinnen im grellen Licht der Großstadt an und müssen eine kalte Winternacht in einem auch sozial unterkühlten New York überstehen.

Ums Überleben während einer einzelnen, dramatischen Nacht geht es auch in LA NUIT DES ROIS, dem zweiten Spielfilm von Philippe Lacôte. Im „Maca“, einem Gefängnis an der Elfenbeinküste, haben die Häftlinge das Regiment von den Wärter:innen übernommen und leben nach ihren eigenen Regeln. Die Kunst des Geschichtenerzählens gilt ihnen dabei als höchstes Gut. Ein neuer, junger Häftling muss sich über die Nachtstrecke als tauglicher Kronprinz in Sachen Story-Entertainment erweisen und spinnt, wie Scheherazade in „1001 Nacht“, einen Erzählfaden nach dem anderen, um nicht getötet zu werden. Philippe Lacôte wuchs selbst an der Elfenbeinküste auf und entführt in eine eigene, mystische Welt.

 

Gespenstische Zustände

Auf einen Ort und eine kurze Zeitspanne konzentriert sich auch GHOSTS, das Spielfilmdebüt von Regisseurin Azra Deniz Okyay. An einem turbulenten Tag und in einer ebenso turbulenten Nacht kreuzen sich immer wieder die Wege der Bewohner:innen eines ärmeren Viertels in Istanbul. Auch hier ist die Gentrifizierung im Anmarsch: Alte Gebäude werden in Nacht-und-Nebelaktionen abgerissen und neu aufgebaut, während junge wie ältere Menschen verzweifelt versuchen, den Kopf über Wasser zu halten und ihrem Leben vielleicht einen neuen Dreh zu geben. Azra Deniz Okyay wurde selbst in Istanbul geboren und bekam für ihr aufregendes, fragmentiert erzähltes Debüt bereits mehrere Preise.

Nuit Des Rois Online 01

LA NUIT DES ROIS

Ghosts Online 01

GHOSTS

Geisterhaft unbestimmt – so ist der Zustand einer Gruppe von Asylsuchenden, die in Ben Sharrocks Debütfilm LIMBO auf einer schottischen Insel ihrer Aufenthaltsgenehmigungen harren. Einer von ihnen, Omar, steht exemplarisch all die heiter-fiesen Dinge durch, die man erlebt, wenn man ein Außenseiter ist und gerne in der Mitte einer anderen Gemeinschaft ankommen würde. Der Brite Sharrock verarbeitet hier einfühlsam und witzig Eindrücke, die er einst als NGO-Mitarbeiter in einer Flüchtlingsunterkunft in Algerien und bei einem Aufenthalt in Damaskus sammelte.

In Palermo, der Heimat von Regisseurin Emma Dante, spielt deren erster langer Spielfilm LE SORELLE MACALUSO. Dante spannt einen epischen Bogen, von einer idyllischen Kindheit zu einem Erwachsenen-Dasein, das von der Vergangenheit wiederum stark beeinflusst wird. Fünf verwaiste Schwestern aus einfachen Verhältnissen bleiben über den Lauf der Zeit miteinander vernetzt, wobei schon früh ein tragischer Unfall die Schwesternidylle unterbricht und geisterhaft ihr ganzes Leben überschattetDie Familie als Keimzelle allen Glücks und Übels beschäftigt Emma Dante insgesamt in ihrem Schaffen; LE SORELLE MACALUSO ist die Adaption ihres eigenen, zweiten Theaterstücks.

 

Weibliche Ausbruchsversuche

im Hier und Jetzt –

oder in Parallelwelten

In den übersichtlichen, engen Kosmos eines katalanischen Provinzkaffs entführt das Kinodebüt LA INNOCÈNCIA von Lucía Alemany, die selbst in einem Dorf in der Region Valencia groß geworden ist. Sie erzählt von einer Gruppe von Mädchen, die ausgelassen ihr junges Leben feiern, auch wenn ihre jeweiligen Eltern ihnen vehement Grenzen zu setzen versuchen. Die Hauptfigur, Teenager Lis, träumt davon, sich in Barcelona als Zirkuskünstlerin ausbilden zu lassen, kommt aber schwer in die Bredouille, als sie unverhofft schwanger wird. Kann sie aus dem Gefängnis der Provinz entkommen?

Aus dem Gefängnis des Patriarchats, in dem anzügliche Sprüche und männliche Herablassung zur Tagesordnung gehören, findet Twentysomething Ana in MAYDAY einen Ausweg. Durch ein Ofenrohr gelangt sie in eine Parallelwelt, in der die Frauen den Spieß umdrehen. Angesichts mancher rabiater Guerilla-Aktionen bekommt Ana jedoch Zweifel, ob diese feministische Utopie nicht doch zu viele dystopische Züge trägt. Aber kann sie überhaupt zurück? Die New Yorker Drehbuchautorin und Regisseurin Karen Cinorre legt mit ihrem Langfilmdebüt ein witziges, dunkles Märchen vor.

Stark bedrohlich ist die Vision, welche die brasilianische Regisseurin Iuli Gerbase in ihrem ersten abendfüllenden Spielfilm A NUVEM ROSA entwickelt. Eines Tages taucht eine rosa Wolke am Himmel auf und stürzt die ganze Welt in die Apokalypse: Wer rausgeht, verliert in zehn Sekunden sein Leben. Die Weltbevölkerung sitzt drinnen, wie im Knast, wobei Giovana schon im Gefängnis der Erwartungen sitzt: Sollte eine Frau nicht unbedingt einen Partner finden, mit ihm Kinder kriegen und dann sowieso daheimbleiben? Während des Lockdowns, den Giovana gemeinsam mit ihrem One-Night-Stand Yago in ihrer Wohnung verbringen muss, rückt dieses Szenario im Laufe der Zeit immer näher. Aber vielleicht gelingt ihr ja doch der Ausbruch? Iuli Gerbase begann die Arbeit an dem Drehbuch zu diesem Film bereits 2017, sah also die reale Pandemie auf unheimliche Weise voraus. Das Leben ist nun mal ein verrückter Fluss, und im Film gibt es Strömungen, die manchmal direkt in die Zukunft fließen.

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