Keine Kompromisse
Dass Shin’ya Tsukamoto mehr als ein klassischer Autorenfilmer ist, stellte er bereits zu Beginn seiner Karriere unter Beweis. Bei seinem Langfilmdebüt TETSUO: THE IRON MAN von 1989 führte er nicht nur Regie, sondern verantwortete auch Drehbuch, Produktion, Kamera und Schnitt. Zudem stand er selbst vor der Kamera. Diese Arbeitsweise, die er seitdem in nahezu allen seinen bisher fünfzehn Filmen beibehalten hat, macht ihn zu einem Meister des unabhängigen Films.
TETSUO: THE IRON MAN besitzt in seiner überbordenden Mixtur aus Science-Fiction und Horror längst Kultstatus. Der Film setzte mit seiner radikalen Form neue Maßstäbe im noch jungen Cyberpunk-Genre. In körnigen Schwarz-Weiß-Bildern, gedreht auf 16 mm, erzählt der Film von einem Büroangestellten, der sich langsam in ein Maschinenwesen aus Metallschrott verwandelt. Verantwortlich für diese Transformation ist der „Metallfetischist“, ein obskurer Mann, der sich selbst mit Metallgegenständen verstümmelt.
Tsukamoto, der jenen Mann spielt, bricht mit gewohnten narrativen Strukturen. Realität und Fantasie verschmelzen in einem alptraumhaften Rausch aus Metall. Groteske Stop-Motion-Effekte, schnelle Bildabfolgen, hastige Handkamera-Bewegungen und ein hämmernder Industrial-Sound seines Stammmusikers Chu Ishikawa machen den Film zu einem manisch-aggressiven Horrortrip, der alle Sinne überfordert. Tsukamoto lässt mit seinem kompromisslosen Gewaltexzess den Body-Horror eines David Cronenbergs weit hinter sich.
Wie sein Vorbild Cronenberg emanzipierte sich auch Tsukamoto im Laufe der Jahre von der Radikalität seines Frühwerks. Drehte er in den 90ern noch ausgewiesene Genre-Filme mit expliziter Gewaltdarstellung wie den Tetsuo-Nachfolger TETSUO II: BODY HAMMER (1992), TOKYO FIST (1995) oder BULLET BALLET (1998), schlug er Beginn der 2000er leisere, aber nicht minder absonderliche Töne an. A SNAKE OF JUNE (2002) ist ein sexuell aufgeladener Psychothriller über Voyeurismus, Exhibitionismus und frustriertes Begehren inmitten der dystopischen Tristesse einer Großstadt.
Shin'ya Tsukamoto
Vital
VITAL (2004) hingegen mutet in seiner Grundhaltung fast zärtlich an. Das Drama handelt von einem jungen Mann, der bei einem schweren Autounfall nicht nur seine Freundin, sondern auch sein Gedächtnis verloren hat. Fasziniert von einem Lehrbuch voller Zeichnungen von Obduktionen, zieht es ihn in eine medizinische Fakultät. Als er während des Studiums in einem mehrmonatigen Autopsie-Kurs die Leiche einer jungen Frau untersucht, kehren langsam Fragmente seiner Erinnerungen zurück. Es stellt sich heraus, dass es sich bei dem toten Körper um seine verstorbene Freundin handelt. Das Sezieren wird zu einer obsessiven Form der Erinnerungsarbeit. In bedächtigen, teils traumartigen Bildern erkundet der Film die Brüchigkeit unseres Lebens und unserer Erinnerungen.
Auch in den folgenden Jahren blieb Tsukamoto seinem Hang zum Morbiden und Abseitigen treu. Mit den beiden NIGHTMARE DETECTIVE-Teilen (2006, 2008) wandte er sich erstmals einem breiteren Publikum zu. Nach dem dritten Tetsuo-Teil TETSUO: THE BULLET MAN (2009) und dem verstörenden Horrorfilm KOTOKO (2011) über eine halluzinierende Mutter, begann er mit FIRES ON THE PLAIN (2014) seine Anti-Kriegstrilogie, die er mit KILLING (2018) fortsetzte und mit SHADOW OF FIRE (2023) abschloss.
Shadow of Fire
Letzterer feierte, wie so viele seiner Filme, bei den Filmfestspielen in Venedig Uraufführung und ist in seiner Ästhetik äußerst minimalistisch gehalten. Tsukamoto führt hier seine Betrachtungen über die Fragilität menschlicher Körper und des Lebens weiter. Der Zweite Weltkrieg ist gerade zu Ende gegangen. In den zerstörten Räumen eines Gasthauses treffen eine Witwe, die sich aus Not prostituiert, ein Waisenjunge und ein Soldat aufeinander. Alle drei suchen inmitten eines von Brandbomben zerstörten Tokios nach Trost und Zuneigung. Die neugefundene Ersatzfamilie hält jedoch der Last der seelischen Wunden nicht stand. Der Film richtet seinen Blick vor allem auf den Jungen, der im Angesicht der Zerstörung noch sein ganzes Leben vor sich hat. Der Horror, von dem Tsukamoto hier in auffallend warmen Bildern erzählt, zeigt sich auch im nächtlichen Wimmern der Protagonist:innen. Denn in ihren Köpfen ist der Krieg längst nicht vorbei.
Das FILMFEST MÜNCHEN freut sich sehr, mit Shin’ya Tsukamoto einen der versiertesten Regisseure Japans in München willkommen zu heißen und mit einer Hommage zu ehren. Neben seinem neuen Film SHADOW OF FIRE werden zudem VITAL und TETSUO: THE IRON MAN gezeigt. Verpassen Sie auch nicht den FilmTalk mit diesem einzigartigen Regisseur.