Gewachsene Ameisen

Dem lateinamerikanischen Kino wurde erstmals beim Filmfest 1999 eine eigene Reihe gewidmet. Schon damals hat Florian Borchmeyer als Übersetzer und Moderator beim Filmfest gearbeitet, seit 2008 programmiert er die spanisch- und portugiesischsprachigen Filme. Wie er die Entwicklung des lateinamerikanischen Kinos über die letzten zwanzig Jahre hinweg sieht, verrät er im Interview.

Florian, als Diana Iljine 2012 Leiterin des Filmfests wurde, fiel der Entschluss, die internationalen Länderreihen aufzulösen, darunter die „American Independents“ und die „Visiones Latinas“. Filme aus Lateinamerika finden sich seither in den Reihen „International Independents“ und „Spotlight“ sowie den Wettbewerben des Festivals wieder. Wie kam es dazu?

FLORIAN BORCHMEYER: Ich selbst wollte damals, dass die „Latino“-Reihe aufgelöst wird, weil die Regisseur:innen sich selbst schon lange nicht mehr mit diesem Label identifizieren. Ihre Filme haben oft keine spezifisch lateinamerikanische Identität, sondern bewegen sich zwischen verschiedenen Identitäten und filmischen Traditionen. Manche fühlen sich mit ihren Werken eher dem asiatischen Kino verbunden, viele mit der europäischen Tradition, andere mit dem US-amerikanischen Kino. Das heißt, dieses Latino-Etikett ist für die Filmemacher:innen schon lange nicht mehr positiv konnotiert; das klingt eher nach einem Ghetto, einem „Dritte-Welt-Laden“. Dabei verstehen sie sich selbst als internationale Filmkünstler:innen und werden seit vielen Jahren auch internationalen Standards gerecht. Dementsprechend haben viele ihrer Filme heute ihre Weltpremiere in den Wettbewerben der A-Festivals und gewinnen oftmals Preise.

Zum Beispiel?

2019 lief BACURAU von Kleber Mendonça Filho und Juliano Dornelles im Wettbewerb von Cannes, ein Science-Fiction-Drama, das dann in Cannes mit dem Preis der Jury und beim Filmfest mit dem Arri/Osram Award ausgezeichnet wurde, und zeitgleich im Nebenwettbewerb A VIDA INVISÍVEL DE EURÍDICE GUSMÃO von Karim Aïnouz, der dann in München den CineCopro-Award abräumte. Das hat auch die Pandemie, die Lateinamerikas Kino besonders hart traf, nicht abbrechen lassen. In San Sebastián hat beim letzten Festival LOS REYES DEL MUNDO der Kolumbianerin Laura Ortega den Hauptpreis gewonnen... und wird nun bei der diesjährigen Filmfest-Ausgabe zu sehen sein.

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A VIDA INVISÍVEL DE EURÍDICE GUSMÃO

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Bacurau

Wie war die Situation des lateinamerikanischen Films vor zwanzig, dreißig Jahren?

Damals, in den späten 1990ern, hielt ich mich in Havanna auf und begann, mich für lateinamerikanischen Film zu interessieren. Nur herrschte da eine seltsame Nicht-Übergangszeit: Es gab noch eine Riege von Regisseur:innen, die in den 1960ern und 1970ern für einen Aufbruch im lateinamerikanischen Kino gestanden hatten. Zwar waren Glauber Rocher und Joaquim Pedro de Andrade, die führenden Figuren des brasilianischen Cinema Novo, bereits 1981 beziehungsweise 1988 gestorben, aber da waren noch große Regisseure wie Nelson Pereira dos Santos und Fernando Solanas, beide mittlerweile ebenfalls tot, oder auch Carlos Diegues und Júlio Bressane, die bis heute noch Filme machen. 1993 konnte der kubanische Regisseur Tomás Gutiérrez Alea, eine Gründungsfigur des Kinos der kubanischen Revolution, mit ERDBEER UND SCHOKOLADE auf Festivals und in den Kinos einen Welterfolg feiern, der den seiner Werke aus den 60er Jahren noch übertraf. Auch Patricio Guzmán, der in den Allende-Jahren die SCHLACHT UM CHILE gefilmt hatte, hat weiter Filme gemacht und tut dies bis heute – er war auch oft bei uns beim Filmfest zu Gast. Aber es fehlten in den 90er Jahren Impulse einer jüngeren Generation, die etwas Neues ausprobiert. Walter Salles wurde dann auf der Berlinale 1998 für CENTRAL DO BRASIL mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Er war Anfang 30, aber das war zunächst eher eine Ausnahme…

Dennoch wurde 1999 die Reihe „Visiones Latinas“ beim Filmfest eingeführt.

Ja, weil sich um die Jahrtausendwende plötzlich doch einiges veränderte. LA VIDA ES SILBAR/DAS LEBEN, EIN PFEIFEN von Fernando Pérez lief beim Filmfest 1999 – das war auch der Film, mit dem ich damals genau im ersten Jahr der neuen Latino-Reihe völlig ungeplant zum Filmfest kam: Ich war selbst bei den Dreharbeiten als Hospitant dabei und kannte daher die beiden Hauptdarstellerinnen, die den Film beim Filmfest vorstellten und mich zur Premiere einluden. Unversehens wurde ich dabei zu ihrem Dolmetscher bei den Aufführungen, und nun ist es bereits mein 25. Filmfest in diesem Jahr… Ein weiterer Film aus Argentinien, der mir besonders auffiel, war MUNDO GRÚA: ein in Schwarz-Weiß gedrehtes Drama, das die Geschichte eines Baukranfahrers erzählte und in Venedig den Kritikerpreis gewonnen hatte. Wir zeigten MUNDO GRÚA beim Filmfest 2000. Der Regisseur, Pablo Trapero, kam aus Argentinien und war nur unbedeutend älter als ich. Da merkte ich, dass jetzt doch ein Umbruch passiert, mit Leuten in ihren Zwanzigern, die insbesondere Filme über ihre eigene Lebensrealität machen wollten. Dazu gehörten argentinische Regisseur:innen wie Pablo Trapero, Lisandro Alonso, Martín Rejtman, Diego Lerman oder Lucrecia Martel, von der wir LA CIÉNAGA beim Filmfest 2001 zeigten. Diese neue Generation wurden von Kritikern die „hormiguitas” genannt: „kleine Ameisen“, weil sie mit ihren Filmen in die dicken Hintern der Funktionäre zwickten. Es gab eine Art Wachablösung, auch in anderen Ländern.

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LA CIÉNAGA

Ging diese Wachablösung von den Filmhochschulen aus?

Unter anderem. In Lateinamerika gab es ja zunächst lange Zeit fast keine Filmhochschulen. Die berühmteste entstand 1986 in der Nähe Havannas, in San Antonio de los Baños, auf Initiative von Gabriel García Márquez. Fünf Jahre später, 1991, wurde in Argentinien die Universidad del Cine gegründet. Diese Schulen haben tatsächlich bald Früchte getragen. Es entstand eine regelrechte Aufbruchsstimmung im lateinamerikanischen Kino, weshalb 1999 Ulla Rapp und Klaus Eder auch auf die Idee kamen, diese Reihe zu begründen. Sie merkten, dass in Lateinamerika eine besondere künstlerische Entwicklung stattfindet, die sie unbedingt highlighten wollten. Ich habe die Konzeption dieser Reihe mitbegleitet und hatte ebenfalls den Eindruck, dass es für dieses Kino ein eigenes Fenster innerhalb der Festivalstruktur geben muss.

1999 wurde die Reihe dann mit LA VENDEDORA DE ROSAS von Victor Gavirias eröffnet.

Ein halbfiktionaler Film über eine Rosenverkäuferin in Kolumbien. Die Kamera begleitet sie auf der Straße, die Darsteller:innen haben sich selbst gespielt – mit einem tragischen Ende in der Realität. Die titelgebende Rosenverkäuferin, Lady Tabares, war in München und wurde von den Leuten gefragt: Was machen sie denn, wenn sie zurück in Kolumbien sind? Was sind ihre nächsten Rollen? Sie meinte: Rollen? Ich verkaufe Rosen! Damals war sie gerade 17. Nach ihrer Rückkehr hat sie mit ihrem Freund Taxifahrer überfallen. Ein Taxifahrer erkannte sie, er hatte offenbar den Film gesehen! Woraufhin sie ihn umgebracht haben. Das Filmfest hatte also eine waschechte Mörderin in spe zu Gast. Lady, die Rosenverkäuferin, wurde zu 26 Jahren Gefängnis verurteilt – und letztes Jahr hat sie, vorzeitig entlassen und nun 40 Jahre alt, erstmals wieder eine Rolle in einem Film gespielt.

Dann mal lieber zurück zu den jungen Regisseur:innen: Wie sieht die Filmförderung in Lateinamerika aus? Gab und gibt es da gewachsene Strukturen, in denen sie arbeiten können?

Es gibt einige Länder wie Argentinien, Brasilien oder Mexiko, die auf eine lange Filmgeschichte zurückblicken können. Ab den 1960ern gab es auch in Kuba, in Chile und Kolumbien eine eigene Filmproduktion, aber durch die politischen Desaster in Lateinamerika ist vieles vor die Hunde gegangen: Bürgerkrieg in Kolumbien, die kubanische Wirtschaftskrise nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Doch schon vorher, in den 70ern, sind in großen Teilen Südamerikas Diktaturen entstanden, die in der Kulturpolitik eine neoliberale Doktrin verfolgten. Sprich: Sämtliche Kulturprodukte sollten sich selbst finanzieren. Diktaturen haben für Kultur nun mal nichts übrig. In Chile führte das dazu, dass ab 1973 die Filmproduktion praktisch verschwunden ist – von 1973 bis 1990 wurden dort gerade mal 18 lange Spielfilme gedreht. Heute werden in Chile pro Jahr weitaus mehr Filme produziert als in der gesamten Pinochet-Ära zusammengenommen.

Einige Filmkünstler:innen gingen auch ins Exil, um unter besseren Bedingungen arbeiten zu können.

Ja, Fernando Birri verließ Argentinien und ging nach Kuba, Patricio Guzmán ist aus Chile erst nach Kuba, dann nach Paris gezogen. In Brasilien ist hingegen das Land so riesig, dass die Diktatur nicht alle auf Linie bringen konnte, selbst wenn einige im Gefängnis landeten oder ins Exil gingen. Aber die kulturelle Filmförderung ist zwischendurch auch in Brasilien verschwunden, das Filmedrehen wurde für einige Zeit zum Guerilla-Unternehmen. Später gab es dann wieder ein neues Filmförderungssystem, Brazilian style: Große Unternehmen unterstützten die Filmförderung und konnten ihre Spenden von der Steuer absetzen. So wurde etwa der riesige Mineralölkonzern Petrobas ein begeisterter Filmförderer! Bolsonaro hat zwar dann große Teile der Filmförderung wieder abgesägt. Doch auf Ebene der einzelnen Bundesstaaten wurden weiter Filme gefördert, die überhaupt nicht in das Bild Brasiliens passten, das die Zentralregierung sich wünschte. Siehe etwa das Transfrauen-Drama PALOMA, das im letzten Jahr bei uns Weltpremiere hatte. Und jetzt werden ohnehin die Karten wieder neu gemischt.

 

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Paloma

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Bei der Weltpremiere in München 2022

Wie sieht das in anderen Ländern, zum Beispiel Argentinien aus?

In Argentinien hat man 1995 ein Filmförderungsgesetz geschaffen, dass sich stark an der französischen Filmförderung anlehnt. Von den Einnahmen der Kinotickets und DVD-Verkäufe musste eine zehnprozentige Abgabe an das Filminstitut INCAA abgeführt wurden. So finanzieren amerikanische Blockbuster, die auch in Argentinien sehr populär sind, das Kino der neuen Generationen. Andere Länder machen das ähnlich und haben noch ein paar eigene Ideen entwickelt. In Kolumbien gibt es zum Beispiel einen nationalen Filmförderfonds, der seine Auswahljurys international besetzt. Ich wurde 2010 nach Kolumbien eingeladen, um dort gemeinsam mit der Jury zu tagen. Da habe ich dann zusammen mit einem Franzosen, zwei Argentinierinnen, einem US-Amerikaner und zwei Kolumbianern über rund fünfzig Drehbücher diskutiert.  Als Ausländer hat man einen anderen Blick auf den kolumbianischen Film, das wird durch diese Maßnahme klug unterstützt. Vor wenigen Tagen bin ich erneut in eine Work-in-Progress-Jury eingeladen worden, die darüber entscheidet, welche Filme Mittel für ihre Postproduktion bekommen – und fliege so direkt vom Filmfest zur Preisverleihung beim Filmmarkt von Bogotá. Dieses kolumbianische Konzept würde vielleicht ja auch deutschen Förderinstanzen wie dem Filmförderfonds Bayern gut zu Gesicht stehen. Da wären die ganzen Amigos von Grund auf ausgeschaltet…

Dass heute insgesamt mehr Filme entstehen, hat wohl auch mit dem technischen Fortschritt und damit billigeren Produktionsbedingungen zu tun.

Bestimmt. Als ich 1997 zum ersten Mal beim Filmfestival in Havanna war, wurden praktisch alle Filme im 30-Milimeter-Format gezeigt. In den späten Neunzigern wurde dann plötzlich viel auf DV gedreht, was zwar billig aussah, aber es gab auch Festivals, die genau das toll fanden. Durch DV gab es die Möglichkeit, wirklich „Independent-Filme“ zu drehen. Selbst etablierte Regisseure wie der Mexikaner Arturo Ripstein, dem das Filmfest in seiner ‚analogen‘ Ära bereits eine große Retro gewidmet hatte, haben plötzlich auf Mini-DV gedreht. Wichtig war die neue Technologie aber besonders für die Independent-Filmszene in kleineren Ländern. In Kuba etwa konnten sich plötzlich Filmemacher:innen den Ärger mit dem kubanischen Filminstitut sparen. Der Leiter des ICAIC, Alfredo Guevara, war ein alter Kampfgefährte von Castro, durch ihn konnte das Regime die Filmproduktion kontrollieren. Als in Kuba DV fürs Filmedrehen entdeckt wurde, entstand allmählich eine Parallelindustrie, neben der offiziellen. Beim Filmfest 2008 haben wir zum Beispiel PERSONAL BELONGINGS von Alejandro Brugués gezeigt. Das war der erste komplett unabhängig produzierte Film aus Kuba, der international Karriere macht. Diese alternative Filmindustrie in Kuba ist während der Pandemie wieder verschwunden, was aber nicht mit dem Kino, sondern der prekären Lebensrealität durch das Corona-Virus zu tun hat.

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Arturo Ripstein auf dem FILMFEST MÜNCHEN 1989

Finanzielle Unterstützung bekommen lateinamerikanische Filme auch durch Koproduktionen.

Ja, viele lateinamerikanische Filme werden mit europäischen Fördermitteln gedreht, Match Factory ist zum Beispiel an einigen beteiligt. Der World Cinema Fund der Berlinale steigert die Motivation für deutsche Produktionsfirmen, sich an lateinamerikanischen Projekten zu beteiligen. Es gibt zudem eine sehr lange Tradition der Zusammenarbeit mit Frankreich, dort existiert schon seit 1984 ein eigener Fonds für Filme aus dem globalen Süden, aber auch mit Spanien, wo es seit über 25 Jahren ein großes Koproduktions- und Förderprogramm ausschließlich für Lateinamerika gibt – was sich anbietet, weil es da keine sprachlichen Barrieren gibt. Lateinamerikanische Filme kann man natürlich sehr leicht in Spanien ins Kino bringen. Die meisten größeren Produktionen wie BACURAU entstanden in Koproduktion mit Europa. Auch in dieser Hinsicht gibt es den „Dritte-Welt-Laden“ einfach nicht mehr. Ganz oft haben die Filme, die wir einladen, mehrere Nationalitäten.

Es fällt dabei auf, dass mittlerweile auch Filme aus „kleineren“ Ländern auf dem Programm stehen.

Wir haben früher vielleicht mal einen Film aus Venezuela gezeigt, was an sich ja ein riesiges Land ist, aber das war es dann oft auch schon. Heute ist die Bandbreite größer, weil in den letzten Jahren auch in kleineren Ländern eine Form von Filmförderung entstanden ist. Es gibt mittelamerikanische Synergien – „Cinergia“ lautet der Name eines dortigen Fonds passenderweise –, die sich zum Ziel gesetzt haben, Filme aus den kleinen Ländern in Zentrum des Kontinents zu produzieren und zu vertreiben. So konnten wir 2008 den Film GASOLINA von Julio Hernández Cordon zeigen – einen der ersten Filme aus Guatemala, der weltweit auf Festivals lief. Beim letzten Filmfest hatten wir UTAMA im Programm, einen Film aus Bolivien, der auch einen deutschen Verleih hat und im März einen offiziellen Kinostart bekam, oder den Film CARAJITA aus der Dominikanischen Republik. In diesem Jahr zeigen wir Filme aus Ecuador und aus Nicaragua. So etwas wäre früher undenkbar gewesen.

 

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Carajita

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Marte Um

Haben sich die Filme in den letzten zwanzig Jahren auch hinsichtlich ihrer Ästhetik verändert? Beim Filmfest 2022 lief zum Beispiel MEDUSA von Anita Rocha da Silveira, ein Mix aus Gesellschaftssatire und Horrorfilm, mit visuellen Anleihen bei Dario Argento und anderen Vorbildern.

Es ist sicherlich charakteristisch für das lateinamerikanische Kino, dass Einflüsse aus anderen Kinokulturen mit in die Filme einfließen. Auch der Einfluss des Genrekinos ist sehr stark. In den 1990ern gab es bereits viele Anleihen bei der Nouvelle Vague, dem italienischen Neorealismus, dem Cinema Vérité, weil es dem Generationsgeist entsprach. Regisseur:innen wie Lisandro Alonso und Lucrecia Martel haben schon früh die traditionelle Filmdramaturgie aufgebrochen. LA LIBERTAD von Lisandro Alonso lief noch vor meiner Zeit beim Filmfest, aber Ulla Rapp hat mir erzählt, dass der bei seiner Premiere in Cannes wütende Reaktionen auslöste. Das Publikum verließ schimpfend den Saal, weil für die meisten in diesem Film schlicht nichts passierte. Die Kamera beobachtet einen Holzfäller, es gibt keine klassische Storyline, keine dramaturgischen Plot-Points. LA CIÉNAGA von Lucrecia Martel verzichtet ebenfalls auf eine lineare Erzählstruktur, da wird eine Familie im Zustand der Immobilität beobachtet. Der Film hat schon eine Handlung, die lässt sich aber eher durch die zu beobachtenden Vorgänge erklären als durch einen Plot. Das war schon sehr aufregend und ungewöhnlich für die Zeit. Eine Weile lang war das eine dominierende Tendenz im lateinamerikanischen Kino: dass man sich durch neue Erzählformen von den Alten abgrenzen wollte. Dass manche dieser Filme in der Immobilität enden, fand ich damals gerade „thrilling.“

Andere Filme wie MEDUSA kreuzen ziemlich wild verschiedene Genres. Setzt sich dieser Trend fort?

Ja, es gibt mittlerweile viele dieser Genrehybride: Autorenfilme, gemischt mit Horrorelementen oder einer Krimihandlung. SORCERY, den wir in diesem Jahr zeigen, ist so ein Fall: ein chilenischer Film, der im 19. Jahrhundert spielt und von einer Frau handelt, die bei einer deutschen Siedlerfamilie auf einer Insel lebt. Der Grundherr setzt die Hunde auf den Vater an, daraufhin gibt es einen Hexenprozess, in dem klar wird, dass der Bürgermeister nicht an Hexerei glaubt, weil er ein überzeugter Rationalist ist. Das ist ein Historienfilm mit Elementen eines übernatürlichen Thrillers, hochpolitisch, weil er offensichtlich auf den Mapuche-Konflikt in Chile anspielt. Diese Filmsprache, in der sich verschiedene Formen mischen, hat sich längst internationalisiert. In Brasilien gucken die Leute auch Mubi und Netflix, wir alle haben durch die Streamingdienste ständig Zugang zu verschiedenen Filmsprachen. So etwas wie eine nationale Identität festzuhalten wird dann zusehends schwierig, auch in Europa.

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Medusa

Wie divers ist das heutige lateinamerikanische Kino?

Bis auf wenige Regisseurinnen wie die leider früh verstorbene Afrokubanerin Sara Gómez war die Industrie lange Zeit von weißen Männern aus dem Bürgertum dominiert – was letztlich auch für die meisten großen Filmrevolutionäre der 60er Jahre gilt. Das hat sich mittlerweile stark verändert. in den letzten Jahren ist der Frauenanteil deutlich gestiegen. Auch die Thematik und die Herkunft der Filme hat sich geöffnet. Es gibt zum Beispiel aus einem Land wie Brasilien sichtbares Black Cinema. Wir haben beim Filmfest 2022 den brasilianischen Oscarkandidaten, MARTE UM, gezeigt, der von einem schwarzen Regisseur über eine schwarze Familie gedreht wurde. Es gibt mehr Genderdiversität, was zum Beispiel in dem bereits erwähnten Film PALOMA sichtbar ist: ein Werk aus dem brasilianischen Nordosten, mit einer Hauptdarstellerin, die zum ersten Mal vor der Kamera gestanden ist. Das Spektrum hat sich in relativ kurzer Zeit vergrößert. Aber Filmemachen ist noch längst kein paritätischer Prozess. Für die nächsten zwanzig Jahre sehe ich da noch viel Potential!