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AUS DER ENGE HERAUS

Michael Stadler
Michael Stadler

Marie Kreutzers CORSAGE ist der Eröffnungsfilm des diesjährigen FILMFEST MÜNCHEN. Er gehört zu einer Reihe von Kinowerken im Festivalprogramm, in denen von Emanzipationsbestrebungen und kleinen wie großen Rebellionen gegen das Patriarchat erzählt wird.

AUS DER ENGE HERAUS

Manche Gefängnisse haben unsichtbare Gitterstäbe. Das Gefängnis von Kaiserin Elisabeth von Österreich war so eines – die österreichische Regisseurin Marie Kreutzer entwirft in CORSAGE rückblickend ein facettenreiches Bild davon: vom Schönheitsregiment, dem sich Elisabeth mit eiserner Härte gegenüber sich selbst unterwarf, über die höfische Etikette bis hin zur lähmenden Aufgabe, das Reich in aller Schönheit und Würde zu repräsentieren und sich in politischen Dingen still zu halten.

Und Mutter war Elisabeth natürlich auch noch, eine, die sich viel Kritik von ihren Kindern gefallen lassen muss, wenn sie nicht gerade abenteuerlustig die Tochter auf einen nächtlichen Ausritt mitnimmt – mit dem Ergebnis, das die Kleine am nächsten Tag an Fieber leidet. „Ich möchte nicht, dass du deine Rastlosigkeit auf unser Kind überträgst“, stellt Franz Joseph wütend fest. Die Erziehungsaufgaben lägen aber nun mal in ihrer Hand, kontert Elisabeth. Und schon wird er spürbar: der Wille zum Widerstand, zur Selbstermächtigung. Elisabeth findet in der Folge weitere Freiräume für sich, im Rahmen ihrer Möglichkeiten – auch buchstäblich im Rahmen des in ihrer Zeit neu eingeführten Mediums Film, dessen Faszination sie erliegt.

Was oft nur am Rande der Aufmerksamkeit liegt, kann das Kino ins Zentrum rücken. Nicht nur CORSAGE, der Eröffnungsfilm des FILMFEST MÜNCHEN, blickt hinter die Kulisse eines mondän scheinenden Frauenlebens, auch andere Kinowerke des Festivals erzählen von (Anti-)Heldinnen und ihren Versuchen, sich aus Alltagsroutinen und, im weiteren Sinne, aus patriarchalischen Systemen zu befreien – zumindest ein Stück weit. Wenn Vicky Krieps sich in einer anderen Rolle, als schwer lungenkranke Hélène in Emily Atefs MEHR DENN JE, dazu entschließt, der Ärzteschaft und ihrem Freundeskreis in Bordeaux den Rücken zuzukehren und ganz allein, ohne Lebenspartner Mathieu, nach Norwegen zu reisen, dann ist auch das eine Entscheidung, nicht konform mit den Erwartungen der anderen zu gehen, sondern selbst im Angesicht des Todes sein eigenes Ding zu machen. Im hohen Norden findet Hélène freundschaftlichen Kontakt zu dem älteren Mann, bei dem sie wohnt, und hat gleichzeitig kaum Empfang: Ihr Handy findet kein Netz, für einige Zeit kann sie kein Bild von sich nach außen schicken. Was Mathieu stört, aber Hélène vielleicht sogar ganz angenehm findet …

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DER RUSSE IST EINER, DER BIRKEN LIEBT

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Giulia

Auf die Reise geht auch Mascha, Aserbaidschanerin, Jüdin und von Beruf Übersetzerin, in DER RUSSE IST EINER, DER BIRKEN LIEBT. Ihr Weg führt weg aus Frankfurt nach Israel, wo sie auf Selbstsuche gehen, ihre Erfahrungen in Deutschland verarbeiten will – oder doch vor ihnen weglaufen? Pola Becks Verfilmung des Romans von Olga Grjasnowa folgt Mascha in die Clubs von Israel oder ins Meer, dem Ort, wo man sich vielleicht am freisten fühlen kann. Auch GIULIA sucht die Nähe zum Wasser – dort, wo die Pandemie, die Arbeitslosigkeit und das Begehren der Männer (und die eigene Sehnsucht nach Geborgenheit) keine Rolle spielen. Dem Driften Giulias, die mit zwei Männern ein amüsant streitendes Trio bildet, schaut Ciro De Caro mit freischwebendem Kamerablick (Bildgestaltung: Manuele Mandolesi) zu. Das Drehbuch hat De Caro gemeinsam mit Hauptdarstellerin Rosa Palasciano geschrieben. Dieses Frauenporträt ist also ein Gemeinschaftsprojekt. So sehr sich aber die Männer im Film um eine engere Verbindung mit Giulia bemühen, so wenig lässt sie sich einfangen.

In ihrem Alltag eingesperrt fühlt sich hingegen Kate (Ruth Wilson aus der Serie THE AFFAIR) in TRUE THINGS der Britin Harry Wootliff. Die Aussicht auf eine Befreiung aus ihrem drögen Leben scheint sich zu öffnen, als sie, ausgerechnet, einen Ex-Knacki (Tom Burke) kennenlernt – einen, der das Leben hinter (sichtbaren) Gittern kennt. Gegen das geschlossene, ausbeuterische und übergriffige System einer Sekte versucht die 16-jährige Jeanne in SERVUS PAPA, SEE YOU IN HELL zu rebellieren. Allein der Titel des Films verrät schon, mit welcher Vehemenz sie dabei ihren Befreiungskampf führt.

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True Things

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Servus Papa, see you in hell

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Red pomegranate

Der kasachische Film RED POMEGRANATE verweist derweil mit seinem Titel auf den Namen seiner Protagonistin. Die heißt Anar, was die persische Bezeichnung für Granatapfel ist, und weil sie unter Blutarmut leidet, soll sie insbesondere rote Früchte essen. Frau ist, was sie isst – das gilt in dem Film von Sharipa Urazbayeva ganz besonders. Anar ist mit ihrem Mann in die kasachische Provinz gezogen, weil er dort einen neuen Job gefunden hat, den er aber gleich wieder verliert. Wie sie sich dann selbst in einem Laden verdingt und sich um ihren Stiefsohn bemüht, ist berührend anzusehen, auch wenn Anar manche Katastrophe nicht verhindern kann. Darstellerin Ainur Bermukhambetova gibt ihr eine aufrechte Würde, der kein Unglück etwas anhaben kann; eine Grazie wie die einer Kaiserin.

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