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DIGITALE NOMADIN

Franziska Linhardt
Franziska Linhardt

Die taiwanisch-US-amerikanische Künstlerin Shu Lea Cheang lässt ihr filmisches Werk zwischen queerem Kino, Science-Fiction, Pornografie und vernetztem Installations- und Performance-Szenario oszillieren. Im Rahmen der Kooperation mit dem Museum Brandhorst widmet das Filmfest der genreüberschreitenden Künstlerin eine Hommage.

DIGITALE NOMADIN

In UKI, Shu Lea Cheangs jüngstem Spielfilm, findet sich Reiko – ein:e ausrangierte:r Sexarbeiter:in und Replikant:in – im Jahr 2060 auf einer Mülldeponie für Elektroschrott wieder. Entsorgt – weil als Orgasmus-Datensammleri:n überflüssig geworden – versucht Reiko die Kontrolle über den eigenen Festplatten-Körper zurückzugewinnen, der glitcht und neue Formen annimmt. Schließlich verwandelt sich Reiko in einen Virus, um den Planeten vor den rücksichtslosen Plänen eines Biotech-Unternehmens zu retten...

Zwischen den Welten und Körperformen tanzende Erzählungen und Figuren wie Reiko finden sich in vielen von Cheangs Filmen – die als Künstlerin, Filmemacherin und Netzwerkerin selbst eine Grenzgängerin ist. Seit über 40 Jahren bewegt sie sich zwischen Kunst und Film, zwischen Hack-Aktivismus und queerem Science-Fiction-Kino, zwischen Spielfilm und Pornografie.

Im Rahmen einer Hommage für Shu Lea Cheang präsentiert das FILMFEST MÜNCHEN fünf ihrer Filme, die seit den 1990er-Jahren entstanden sind – darunter Kurzfilme und drei Spielfilme. Ihre neue Produktion UKI feiert beim Festival Weltpremiere.

 

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1954 in Taiwan geboren, machte Cheang Mitte der 1970er-Jahre ihren Bachelor in Geschichte in Taipeh und zog dann nach New York City, um Film zu studieren. Kurze Zeit später schloss sie sich Paper Tiger TV an, einem Kollektiv, das wöchentliche Live-Sendungen auf einem offenen Kanal in den USA ausstrahlte. Basisdemokratisch wollte das Kollektiv durch Do-It-Yourself-Ansätze das Mainstream-Fernsehen revolutionieren und spielerisch dessen Ideologien hinterfragen. Diese Formen von Aktivismus, von kollaborativer Zusammenarbeit und einem kritischen Bewusstsein für Mainstream-Medien sind in Cheangs Perspektiven bis heute präsent. Ihr Aktionsradius hat sich nur an die jeweiligen technologischen Entwicklungen und Medien angepasst und Ende der 1990er-Jahre beispielsweise in die Netzwerke des Cyberspace ausgeweitet. In dieser Zeit verließ Cheang New York und wurde digitale Nomadin – ein, wie selbst sagt, „floating digital agent“ zwischen den Welten. Seit 2004 lebt sie hauptsächlich in Paris.

Für das Solomon R. Guggenheim Museum in New York schuf Cheang das erste Webprojekt „Brandon“ (1998–1999), eine Art interaktive Gedenk-Website, die Brandon Teena gewidmet ist – einer jungen Trans*-Person die 1993 in Nebraska vergewaltigt und ermordet wurde. Seitdem gilt Cheang nicht nur als Pionierin der sogenannten Net Art, sie ist definitiv auch Vorreiterin der queeren neuen Medienkunst. Denn sie zeigte schon früh, dass nicht nur die digitale Kunst, sondern auch das Filmemachen keine Einöde weißer patriarchaler hetero-männlicher Sensibilitäten ist. Auch widmet sie sich in ihren verschiedenen Projekten seit vielen Jahrzehnten Themen, die heute umso dringlicher erscheinen, zum Beispiel den Auswirkungen von Technologien auf unseren Körper und unser Miteinander. “Shu Lea’s methodology is unique in its way of connecting two ends that are usually not connected at all: on one side queer history and politics, queer trans activism, and on the other side the digital geeks, the hack activism — bringing them together through fiction and poetry.” So der Philosoph Paul B. Preciado, den Cheang als Kuratoren für ihre Ausstellung einlud, mit der sie Taiwan 2019 auf der Biennale in Venedig vertrat. In ihrer immersiven Installation „3×3×6“ beschäftigte sie sich mit Inhaftierung und der digitalen Überwachung von Gefängniszellen in Zusammenhang mit Gender- und Sex-Nonkonformität. Damit war Cheang die erste nicht-männlich-gelesene Person, die Taiwan auf der Biennale mit einer Einzelausstellung vertrat.

Und auch sonst ist sie keine Unbekannte: Ihre Werke wurden bislang auf internationalen Festivals wie dem Sundance Film Festival oder der Berlinale gezeigt als auch in Museumsausstellungen, unter anderem im MoMA und im Whitney Museum in New York City, im ICC in Tokio, im Palais de Tokyo in Paris sowie auf Biennalen und Kunstschauen, etwa der Documenta in Kassel oder der Gwangju Biennale.

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Sex bowl

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Aber auch in München war sie bereits präsent: Letztes Jahr präsentierte das Museum Brandhorst in der Ausstellung „Future Bodies from a Recent Past – Skulptur, Technologie, Körper seit den 1950er-Jahren“ ein Remake ihrer Installation „Those Fluttering Objects of Desire“ (1992/93). Angelehnt an Peepshow-Videokabinen und Telefonsex-Hotlines konnten dort Beiträge von über 20 Künstler:innen, Filmemacher:innen und Schriftsteller:innen aus Cheangs persönlichem New Yorker Umfeld angesehen werden.

Viele Personen der feministisch-queeren Szene tauchen auch in ihren frühen Filmen auf, von denen SEX FISH (1993) und SEX BOWL (1994), die in Zusammenarbeit mit Ela Troyano und Jane Castle entstanden, während des Filmfests zu sehen sind. Sie handeln von verschiedensten Formen queerer Körper und ihren Begegnungen. Angesiedelt im New York der frühen 1990er-Jahre, wo angesichts der AIDS-Pandemie und eines anhaltenden Rassismus wenig vorurteilsfrei über Sex und Körper gesprochen wurde, stellen Cheangs Filme eine queere Community mit sexueller Handlungsmacht vor. Sie thematisieren Erotik und Begehren abseits von einem patriarchalen Blick der Kamera. „I was trying to break away from the notion of sex as taboo“, wie Shu Lea Cheang es in einem Interview selbst beschreibt.

Auch in späteren Filmen legt sie ein besonderes Augenmerk auf queere Sexualität und die einfallenden Grenzen zwischen privater und öffentlicher Intimität. Diese Themen verbindet sie zusätzlich mit Fragen nach sich entwickelnden Technologien, nach dem globalen Internet-Kapitalismus, nach politischer Kontrolle und Überwachung. Cheangs zweiter Spielfilm I.K.U. (2000) knüpft da an, wo Ridley Scotts berühmter Cyperpunkfilm BLADE RUNNER (1982) aufgehört hat. Als Cyberpunk-Science-Fiction-Porno handelt I.K.U. von Orgasmen als Ware in einem Zeitalter digitaler Technologien. Wie viele ihrer Filme verdreht er dabei Konventionen des Pornos und entzieht sich gleichzeitig jeder Zuordnung. „As much trans-genre as it is trans-gender, I.K.U. also wants to merge video and film into a fresh digital universe large-scale enough to overwhelm the viewer.” Die Überwältigung der Zuschauer:innen ist ihr definitiv gelungen. Denn als I.K.U. Weltpremiere auf dem Sundance Film Festival hatte, verließ aufgrund der expliziten sexuellen Handlungen nahezu die Hälfte des Publikums den Kinosaal.

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I.K.U.

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FLUIDØ

Auch ihr dritter Spielfilm FLUIDØ (2017) hatte in den USA Zensurschwierigkeiten. Hier ist das Humane Immundefizienz-Virus (HIV) mutiert und die ejakulierte Flüssigkeit wird zur Droge und Handelsware. Nur durch exzessive Selbstbefriedigung kann der begehrenswerte Stoff gesammelt und verbreitet werden.

In ihrem jüngsten Film UKI (2023) entstehen Orgasmen nur noch durch Händeschütteln und durch das Einnehmen roter Pillen. UKI ist seit 2009 in Entwicklung, einer Zeit, in der die Utopien des Cyberspace längst überholt waren und Cheang sich in die von ihr postulierten Post-Netcrash-BioNet-Zone zurückgezogen hatte, um sich mit viraler Liebe und Bio-Hack zu beschäftigten. Als Spielfilm ist UKI über viele Jahre in Wechselwirkung mit einer viralen Performance, einem kollektiven Multiplayer-Game und verschiedenen Installationen entstanden. „I am crafting a genre of sci-fi new queer cinema in which sex, code, and data intersect in an entangled [science] fiction,“ beschreibt es Shu Lea Cheang selbst. Ihre Werke durchkreuzen Science-Fiction-Erzählungen mit einer radikalen queeren Perspektive, die neue technologische Möglichkeiten kritisch nutzt und sich dabei nicht scheut, sexuelle Konventionen zu durchbrechen und gesellschaftliche Normen in Frage zu stellen.

 

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